Vom Zwang meines Sohnes, jegliche Elterngespräche zu unterbrechen
- Dr. med. Julia Ruby

- 15. Okt. 2024
- 2 Min. Lesezeit
Sobald mein Mann und ich erste Worte unter vier Augen ausgetauscht haben, rauscht ein Wortschwall von der Seite rein: „Mama, guck mal, was ich gebaut, gemalt, gemacht oder was auch immer getan habe!“ Für mich scheint es fast so als habe unser Sohn einen Sensor eingebaut, der sämtliche Kommunikation, außer die ihn betreffende, registriert und eine sofortige Offensive zur Unterbrechung fremder Gespräche einleitet.
Je nach Energielevel und Überreizungsgrad weise ich ihn ruhig und freundlich oder auch ziemlich wütend daraufhin, dass ich jetzt in Ruhe mit meinem Mann reden möchte und ihm zuhören kann, wenn wir den Satz beendet haben. Analog zur Emotionalität meiner Aussage erfolgt die Reaktion meines Sohnes mit einigermaßen ruhigem, kurzen Abwarten oder einer Schimpftirade. Im welcher Form auch immer empfinde ich diese Auseinandersetzungen als anstrengend und frage mich, warum mein Sohn uns Eltern nicht miteinander sprechen lassen will, obwohl er doch den ganzen Nachmittag alleinige Aufmerksamkeit hatte, und warum sich kein Lerneffekt bei ihm einstellt, wenn wir diese Situationen doch Tag für Tag auf die gleiche Weise behandeln.
In dem Buch „Die Liebe empathischer Menschen“ von Luca Rohleder erlebte ich dann einen „Aha-Effekt“. Rohleder beschreibt, dass die Entwicklung vom „inneren Neugeborenen“ zum „inneren Kind“ bei hochsensiblen oder empathischen Menschen gar nicht oder nur unvollständig stattgefunden hat. Das bedeutet, dass in meinem hochsensiblen Kind noch immer sein „Neugeborenen-Ich“ steckt, das immer dann, wenn die Aufmerksamkeit nicht allein bei ihm ruht, die Urangst entwickelt, vergessen zu werden und sterben zu müssen. Mein Gedanke mit dem Sensor für fremde Gespräche war also gar nicht so verkehrt.
Natürlich ist die Reaktion auf unsere Elterngespräche völlig übertrieben, aber das kann unser Sohn nicht bewusst steuern, denn in diesem Fall handeln Instinkte. Für mich haben die Ausführungen Rohleders an meiner inneren Einstellung viel verändert. Selbstverständlich möchte und werde ich weiterhin Gespräche mit meinem Mann zu zweit führen, auch wenn unser Sohn dabei ist, und ich werde ihm weiterhin sagen, dass ich ihm zuhören kann, wenn wir eine Gesprächspause haben und er warten muss, aber ich werde dies ohne negative Emotionen sagen und ein Ping Pong der schlechten Gefühle mit meinem Sohn verhindern können, weil ich jetzt weiß, dass er nicht mit Absicht handelt, sondern einfach nicht anders kann.


